RASPAIL SPRICHT (3/4): DIE VORSICHT HINDERT UNS DARAN, IM WALD UNSER GESCHÄFT ZU VERRICHTEN…

Von Alexander Pschera

Das Abenteuer beginnt bei Jean Raspail so: „Ich glaube, daß jeder normale Jugendliche nur davon träumt, zu fliehen, abzuhauen. Sonst muß man sich um ihn Sorgen machen“.

Zum dritten Großinterview des Sommers bat die Zeitschrift Éléments (http://revue-elements.com/). Es sollte um die „Kunst des Reisens“ gehen – nicht um die des Pauschaltouristen, sondern um das echte Abenteuer ohne Reiserücktrittsversicherung.

Wie paßt dieser Aufruf zur Rebellion und zum Ausbruch aus der bürgerlichen Ordnung zum Image des Reaktionärs und des Verteidigers der traditionellen Familie?, fragt sich der Journalist Pascal Eysseric.

„Glauben Sie etwa, dass die Reaktionäre niemals abgehauen sind?“, antwortet Raspail. „Sie haben nur das getan, ihr ganzes Leben lang, nichts anderes“.

Raspail hat damit schon sehr früh begonnen: Mit 12 ist er nach Paris abgehauen. zwei oder drei Tage war er weg. Ohne Ziel, ohne nachzudenken. „Ich habe auch oft die Schule geschwänzt und bin aus drei oder vier renommierten Schulen rausgeflogen. Das Abitur habe ich erst im dritten Anlauf geschafft. Oder im vierten, ich weiß es nicht mehr so genau. Einmal bin ich sogar lieber ins Kino gegangen statt in die Abiturprüfung. Ich habe mir Vom Winde verweht angeschaut“.

„An der Universität haben mich dann nur zwei Fächer wirklich interessiert: Französisch und Geschichte. Aber ich bin lieber weiter geflohen“. Die moderne Welt hasst diese Ausreißer. Aber gibt es sie heute überhaupt noch? „Das Prinzip der generalisierten Überwachung und der Vorsicht Ersticken die Abenteuerlust. Einmal sagte mein Vater zu mir (er kannte jeden in Paris, er war berühmt und erfolgreich): ‚Mein armer Jean, ich kann Dich überall empfehlen, aber Du kannst einfach nichts‘. Und das stimmte. Deswegen habe ich mich Hals über Kopf ins Abenteuer gestürzt. Ins Abenteuer und in die Literatur. Den Rest kann man nachlesen in En canot sur les chemins d’eau du Roi  (http://jeanraspail.free.fr/bibliographie_raspail.htm).

Welchen Träumen jagten Sie hinterher? – „Ich wollte mich vor allem jeglicher Hierarchie entledigen – ob in der Familie oder in der Gesellschaft. Außerdem spukte viel Literatur in meinem Kopf herum, Le Capitain Fracasse zum Beispiel. Dieses Buch las ich immer und immer wieder. Daneben natürlich die Bücher der Scoutisme-Bewegung“. „1939 wollte ich dann in den Krieg ziehen – mit 14. Das war natürlich vor dem großen Zusammenbruch. So rettete ich mich von Flucht zu Flucht. Ohne wirklich darüber nachzudenken, wurde ich ein Abenteurer und Erkunder. Man denkt nicht darüber nach, den einen Fuß vor den anderen zu setzen, sondern man marschiert einfach.

„Das Abenteurertum war die logische Fortsetzung meiner Fluchten. Ich habe die Dinge immer mit viel Jugendlichkeit erledigt. Erst mit 80 bin ich aus der Adoleszenz heraus gekommen.“ Wichtig war vor allem das Pfadfindertum: „Ich mache mir Sorgen um die junge Generation. Das Leben in der Natur ist ihr sozusagen verboten. Das Prinzip der Vorsicht hindert einen ja schon daran, im Wald sein Geschäft zu verrichten…“.

Wir waren bewaffnet. Wir hatten Luftgewehre, mit denen wir auf Vögel schossen. Kein Videospiel kann das ersetzen

L’île bleu (1988) ist ein wunderbarer Roman über die Jugend… – „Und ein Großteil davon ist wahr. Wir haben uns wirklich auf dieser Insel in der Touraine verschanzt, meine Cousins und ich. Und wir haben viele ähnliche Geschichten erfunden. Wir haben unsere Insel befestigt, um sie gegen Eindringlinge zu verteidigen. Wir haben nicht mitbekommen, dass die Deutschen in Frankreich einmarschierten. Sie blieben auf den großen Achsen. Aber wir wußten das nicht, und das ist ja das Entscheidende. Wir waren vorbereitet“.

Diese kleine Insel war also schon ein Königreich… – „Wir waren bewaffnet. Wir hatten Luftgewehre, mit denen wir auf Vögel schossen. Kein Videospiel kann das ersetzen. Diese Spiele zwingen einem eine Welt auf. Im Videospiel erschafft man nichts, man läßt sich von einer Welt täuschen, die einem nicht gehört. Man sitzt wie ein Idiot in einem Sessel, in der Dunkelheit, ohne sich zu bewegen. Bei unseren Jugendspielen waren wir immer in Bewegung. Ich habe immer gesagt: Kinder, die nicht ernsthaft spielen, sind kleine Arschlöcher“.

Alfred de Vigny: „Was ist ein großes Leben anderes als ein jugendlicher Gedanke, ausgeführt im reifen Alter?“

Heute ist also alles verloren? – „Nein, es gibt eine junge Generation von Abenteurern, deren Bücher ich gerne lese: Constantin de Slizewicz und Luc Richard haben großartige Bücher über China geschrieben, Falk van Gaver über Tibet und Sébastien de Courtois über die letzten Christen im Orient“.

Der Kapitalismus darf zu neuen Eroberungen in fremde Länder aufbrechen, den jungen Menschen ist das verboten

Abenteuer setzt voraus, dass es noch Räume gibt, die man erobern kann. Gibt es diese Räume heute überhaupt noch? – „Als wir die Südstaaten der USA erkundet haben, hatten wir den Eindruck, Amerika noch einmal zu entdecken. Wir biwakierten und hissten unsere Flagge. Heute hat man nicht mehr das Recht für solche Eroberungen. Es gibt überall zu viele Menschen… Wir sind die Waisen der Träume geworden. Die einzigen Eroberungen, die heute noch möglich sind, sind Gelderoberungen. Der Kapitalismus darf zu neuen Eroberungen in fremde Länder aufbrechen, aber den jungen Menschen ist das verboten. Was für eine traurige Epoche!“

Die Kinder, die heute auf die Welt kommen, haben keine Chance mehr: Alle Gipfel sind erobert, sie sind auch schon vermüllt. Der Himalaya ist eine Autobahn. „Und reden wir nicht vom Mont-Blanc, das ist der totale Wahnsinn. Aber was sollen sie tun, die armen Unglücklichen… das einzige, was ihnen bleibt, sind sportliche Herausforderungen, die immer schwieriger werden“.

„Selbst die modernen Abenteurer – oder die, die sich so nennen, – jammern herum, wenn sie ihre Budgets nicht bekommen, von denen sie meinen, sie würden ihnen für ihre Expeditionen zustehen. Das amüsiert mich sehr. Wir haben früher alle Risiken auf uns genommen, ohne jegliche finanzielle Hilfe. Ein Campingzelt haben wir geschenkt bekommen, das ist wahr, mehr  aber nicht. Für unsere Alaska-Erkundung haben wir keinen Sponsor gesucht – das Wort gab es damals noch gar nicht. Die Durchquerung der Südstaaten hat nichts gekostet – Heute gibt es überall Wege, Autobahnen, Gebühren. Man muß für alles bezahlen“.

Und die Menschenmassen? – „Das Abenteuer hat zwei Voraussetzungen – wenig Menschen und eine freie Natur. Beides gibt es heute nicht mehr. Die Unsicherheit, das Risiko, gab es früher auch – allerdings ein anderes als heute, kein politisches, wie zur Zeit in Pakistan oder Afghanistan, sondern Räuber, Überfälle.“

Wo soll man heute noch hingehen? Wo kann man allein sein?

Patagonien vielleicht. Aber ich höre jetzt lieber auf, sonst sagen die Leute wieder, ich sei asozial“.

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